Ein kleiner Sonderdruck des St.Michaelsbundes hat vor Jahren einen Aufsatz von Hermann Kirchhoff veröffentlicht, aus dem die nun nachfolgenden aufschlussreichen Texte zitiert sind.
Das Urbild des Labyrinthes ist als eines der großen Hoffnungsbilder sehr früh in der jungen Kirche integriert worden. Nur elf Jahre nach dem Toleranzedikt Konstantins finden wir ein Labyrinth in der Reparatus-Basilika von Oreansville in Algier. Der Kirchenboden zeigt ein quadratisch angelegtes Labyrinth mit vier ebenfalls quadratischen Sektoren, die alle durchlaufen werden müssen, um in das Zentrum zu gelangen, das durch die Inschrift als ”sancta ecclesia" ausgewiesen ist. Der Eingang erfolgt vom Norden her: Aus Dunkel und Nacht geht der Weg ins Licht der Mitte.
In den Handschriften der karolingischen und nachkarolingischen Zeit wird die Labyrinthfigur ausgeformt. Das kretische Labyrinth erhält endgültig die christlich inspirierte Kreisform. Otfried von Weißenburg hat in seiner Evangelienharmonie (863-871) das Labyrinth auf elf Umgänge erweitert.
Seine bis heute gültige Form erhielt dann das Kirchenlabyrinth in den nordfranzösischen Kathedralen. Das bekannteste heute erhaltene finden wir in der Kathedrale von Chartres. Es hat elf Umgänge, die in konzentrischen Kreisen angeordnet sind, wobei die Kreuzform das Labyrinth deutlich strukturiert. Der Eingang erfolgt - wie in der Darstellung fast aller Handschriften - vom Westen her, der Himmelsrichtung, die den Abend und das Gericht symbolisiert.
Wenn wir jetzt das christliche Labyrinth zu deuten wagen, so muss zunächst die Sinn-Verschiebung gegenüber dem kretischen, heidnischen Labyrinth deutlich werden. So ist das heidnische Labyrinth in der Tiefe ein Durchgang: Der Mensch findet auf großen Umwegen zur Mitte und aus dem Labyrinth jeder heraus. Der alte Mensch wird in der Begegnung mit dem Numinosen, mit der absurden Realität, dem Göttlichen, zuerst vernichtet und geht dann neu geschaffen in der Kraft der Mitte hinaus in das neue Leben.
Im Kirchenlabyrinth gelangt der Wandernde auf vielen Umwegen zur Mitte und dort bleibt er in ihr.
Den elf Umgängen des späteren christlich verstandenen Labyrinthes liegt die Zahl elf als eine Unglückszahl zugrunde: Sünde ist "Überschreitung der Gebote" (10 + 1). und elf Apostel (12-1) blieben übrig. als Judas den Herrn verriet. So wurde das Labyrinth Bild der Sündenwelt, des Unheils, des Bösen und wenn der Mensch die Wege des Labyrinthes ausschritt so wurde er sich seines sündigen Lebens bewusst, der schuldhaften Umwege zum Zentrum, aber auch der weiten Wege des Heidentums zu Christus und dem Vater.
Vieles war und ist dem Wanderer durch das Labyrinth im Bild spürbar gegenwärtig: Er erfährt die Einsamkeit, das Begrenztsein auf seinem Weg. Er erfährt die Freude. nahe beim Zentrum zu sein, und die Angst, an den äußersten Rand geworfen zu sein. Er erfährt die schuldhafte Ferne und die gnädig gewährte Nähe. bis er endlich die Mitte findet. Sicher aber wird für jeden. der das Labyrinth durchwandert, dieser Prozess zu einem großen Hoffnungsbild. Er erfährt ja, dass es keine toten, sinnlosen Zeiten in seinem Leben gegeben hat und gibt. Am Rande noch, scheinbar aussichtslos weit vom sinngebenden, rettenden Zentrum entfernt, ist er auf dem Weg zur Mitte, wird er vom alles umfassenden Sinn gehalten und getragen. Wer in Schuld, Ängsten und sogar in scheinbarer Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung weitergeht, wird die Mitte finden, wird endlich frei sein im bergenden Schoß seines Gottes.